Willkommen

Willkommen in der Weltenschmiede

Samstag, 12. Oktober 2013

Über das Schmieden von Welten V: Antagonisten

Viele Geschichten kommen nicht ohne Gegenspieler aus. Für Fantasy gilt das nochmal doppelt, schließlich sind viele Erzählungen in diesem Genre klassische Abenteuer, in den Protagonisten Widerstand und Hindernisse überwinden müssen, um für sich selbst einen Platz in der Welt zu finden oder gleich das ganze Erdenrund vor dem Untergang zu retten. Zwar kann der geneigte Schreiberling durchaus mit einem unsichtbaren oder den Charakteren unbekannten Antagonisten arbeiten, das ist jedoch eine Herausforderungen, wenn es um die Erzeugung von Spannung geht. Meistens fällt dann anderen, kleineren Widersachern die Aufgabe zu, anstelle des Großen Bösentm für Spannung zu sorgen. Ohne Antagonisten, außer vielleicht in persönlicheren Kurzgeschichten, tut sich das Genre schwer.

Robert Jordans Dark One als Negativbeispiel - Copyright Red Eagle

Aber - und hier wanke und weiche ich nicht von vorherigen Äußerungen zu dem Thema - Gegenspieler heißt keinesfalls automatisch Dunkler Lord. Deshalb habe ich mich auch bewusst für den Begriff Antagonist entschieden, anstelle vom Bösen o.ä. zu sprechen. Der Dunkle Lord existiert in der Logik der Geschichte, um einen Katalysator für die Geschichte darzustellen, um Elemente in Gang zu setzen, die das eigentliche Abenteuer erst beginnen lassen. Seine Ziele sind einfach gestrickt und selbst die komplexeren unter ihnen wollen die Welt entweder zerstören oder erobern. Anstelle einer Persönlichkeit besitzen sie Betriebsanweisungen, denn sie existieren im Kern erst einmal zweckgebunden.
Das heißt nicht, dass Geschichten mit Dunklen Lords keine Antagonisten beinhalten können. Wie bereits gesagt verfügen die meisten Geschichten dieser Art über eine Art Ersatz-Antagonisten, der - zumindets von der Idee her - die Mängel des Dunklen Lords wettmachen soll. Hierbei kann es sich um die rechte Hand des Lords handeln, um Generäle, Fürsten oder auch Banditen, die sich dem Protagonisten in den Weg stellen.
Allerdings sind sie nicht automatisch das, was ich als Antagonist durchgehen lassen würde. Viele von ihnen sind in Sachen Motivation ähnlich mickrig ausgestattet, wie ihr finsterer Arbeitgeber. Warum dient Lord Fiesewicht dem Dunklen Lord? Weil er böse ist. Ganz selten auch auf Rache aus. Und die Soldaten? Auch.
Die "Motivation" - und ich verwende den Begriff hier mit Vorsicht - des Dunklen Lords wird auf seine Untergebene übertragen. Orks kämpfen für Mordor 2.0, weil sie böse sind. Banditen auch. Und hohe Adelige sowieso.
Damit sind auch diese Ersatz-Antagonisten keine Antagonisten im Sinne der Anklage.

Was aber macht - für mich - einen guten Antagonisten aus?
Die Antwort ist komplex. Ein guter Antagonist sollte das ebenfalls sein. In erster Linie ist er ein Charakter wie alle anderen, der - anstatt über seine Rolle im Aufbau der Geschichte definiert zu sein - eigene Antriebe besitzt und diesen folgt. Er besitzt eine Hintergrundgeschichte, die ihn und seine Handlungen erklären kann und nicht zwingend mit der des Protagonisten verwoben ist. Inzwischen würde ich soweit gehen und sagen, dass ein Antagonist, der einen persönlichen Groll gegen den Protagonisten hegt, sich mit Volldampf auf das Klischee-Territorium zubewegt, das der Dunkle Lord schon lange für sich beansprucht.
Ein weiteres wichtiges Element, das helfen kann einem Antagonisten Tiefe zu verleihen ist, ihn gar nicht erst als Antagonisten zu begreifen. Wieder einmal ist hier George R.R. Martin zu nennen, der dieses kleine, große Kunststück hervorragend beherrscht. Während im Lied von Eis und Feuer die Sympathien der Leser zum Großteil wohl aufseiten der Starks liegen, andere Charaktere weniger beliebt oder regelrecht verhasst sind, verfügen die meisten über eigenen Motivationen, Antriebe und Absichten. Die Ausnahmen sind vermutlich an einer Hand abzuzählen. Schließlich haben die Lannisters im Grunde ebenso eine Motivation für ihre Handlungen, wie die Starks. Charaktere beider Fraktionen sind ihren Häusern treu ergeben und sehen durch die jeweils anderen genau das in Gefahr gebracht, was für sie von hohem Wert ist. Das schafft interessantere Konflikte als die Zuteilung von Attributen wie Gut oder Böse, denn die Linie zwischen den beiden Extremen verwischt so, verbreitert sich oder verschwindet ganz in einer grauen Zone der Ungewissheit. Idealerweise muss sich der Leser nie fragen, wieso zum Teufel die Soldaten des Oberfiesewichts nicht einfach desertieren, wenn er so ein mieser Hund ist, denn die Antworten finden sich im Text selbst.

Das Paradebeispiel - Copyright HBO

Die Handlung wird dadurch ohne Zweifel komplexer als mit einem Hell-Dunkel-Schema. Das wird die Arbeit des Autoren schwieriger machen, aber auch interessanter und der Leser wird es ihm danken.
Denn Geschichten mit doppeldeutigen Charakteren und unklaren Rollenverteilungen laden zum diskutieren ein, sie halten ein Werk im Geiste des Publikums lebendig, weil es mehr zu sein scheint, als die Worte auf dem Papier. Ein Antagonist, der aus der Perspektive des Protagonisten ein eiskalter Bastard ist, kann aus seinem eigenen Blickwinkel eine komplexe Persönlichkeit mit klaren Zielen sein. Er darf Zweifel haben und auch Fehler machen, aber ebenso eigene Ideen entwickeln, die den nominalen Helden der Geschichte das Leben schwer machen. Die Dynamik einer solchen Geschichte wird dadurch ansteigen, obgleich sie auch schwerer zu bändigen sein wird. Es ist eine Herausforderung an den Autoren und vielleicht der Grund, warum eindimensionale Weltenverschlinger im Genre Fantasy noch immer in großem Stil vertreten sind.


Die Faustregel sollte lauten: Jeder Antagonist sollte behandelt werden, wie der Hauptcharakter in seiner eigenen Geschichte.
So ist es im echten Leben ja auch. Obwohl wir alle gerne glauben, Dreh- und Angelpunkt eines großen Epos zu sein, sind wir in dieser Vorstellung nicht alleine. Jeder Mensch, mit dem wir in Kontakt treten, erliegt selbst dieser Idee. Hier könnte sich die Fantasy einen Dienst erweisen, indem sie bewusster an der Realität bedient.


Samstag, 28. September 2013

Über das Schreiben III - Botschaft & Intention

Hallo Zusammen!
Erst einmal möchte ich vielmals um Entschuldigung bitten, dass es hier so lange so still war. Mich gibt es noch, aber die Prüfungen, die ich ja vor einiger Zeit mal erwähnt habe, haben mich noch stärker in Beschlag genommen, als ich ohnehin befürchtet hatte. Deshalb habe ich nicht einmal meinen zweiwöchigen Veröffentlichungsplan für diesen Blog einhalten können.

Nachdem jetzt alles durchgestanden ist und das Semester noch zwei bis drei Wochen auf sich warten lässt, möchte ich wieder etwas Leben in die Weltenschmiede bringen. Ich kann noch nicht garantieren, dass jede Woche etwas zu lesen, gibt, aber monatelange Funktstille versuche ich zu vermeiden.

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Heute soll sich alles um Intention bzw. Botschaft einer Geschichte drehen. Bevor jetzt alle die Augen verdrehen, die sich in den Deutschunterricht zurückversetzt sehen: keine Sorge, wir sind weit entfernt vom Blechtrommel-Niveau und werden uns sicherlich auch nicht mit der Symbolik in Der Tod in Venedig herumschlagen.

"Was möchte uns der Autor damit sagen?"
In meiner Schulzeit habe ich diese Frage gehasst. Ich mochte sie nicht bloß nicht, sondern hatte eine starke, tiefsitzende Abneigung gegen sie, inklusive Augenverdrehen und langer Seufzer. Das hing nicht damit zusammen, dass mir Textinterpretationen übermäßige Probleme gemacht haben. Ich war nur schon damals der Meinung, dass eine gute Geschichte im Zentrum jeder Erzählung stehen sollte und eine Botschaft alles andere als ein Gütekriterium sein sollte.
Wer sich primär auf die Botschaft konzentriert, dessen Charaktere sind Sklaven der Intention, dessen Plot nimmt unglaubwürdige Handlungen und dessen Sprache bleibt oftmals oberflächlich und technisch. Der Vorleser lässt grüßen.
Zu dieser Meinung stehe ich bis heute. Größtenteils. Ich bin nach wie vor der felsenfesten Überzeugung, dass jedes Buch an Handlung und Charakteren gemessen werden sollte, nicht an Zaunpfahlweisheiten über die Natur der Welt, des Menschen oder die Rechtmäßigkeit dieser oder jener religiösen Überzeung. Aber sagen, dass eine wirklich gute Geschichte ohne tieferen Sinn daher kommt, würde ich heute nicht mehr.
Eine gute Geschichte - egal ob Roman oder Kurzgeschichte - sollte es schaffen, den Leser mit ihrer Handlung zu packen, mit ihren Charakteren zu verzaubern und in ihre Welt zu entführen. Eine hervorragende Geschichte sollte all dies tun und noch mehr: Sie bietet dem Leser die Möglichkeit, über die Ebene der eigentlichen Handlung hinauszugehen, Schlüsse und Verbindungen zu ziehen und Symbolik zu entschlüsseln, bis sich hinter dem eigentlichen Text etwas auftut, das möglicherweise allem eine ganz neue Perspektive verleiht.

Weil ich an all dies glaube, bin ich der festen Überzeugung, dass Pratchetts Die Nachtwächter "literarisch wertvoller" (wenn es sowas gibt) ist, als etwa Hauptmanns Bahnwärter ThielPratchett versteht es, in einem amüsanten Buch über Zeitreisen und eine fantastische Welt Beobachtungen über die Natur des Menschen einfließen zu lassen, die bis in den Kern erschüttern können. Aber man kann seine Bücher auch zur Unterhaltung lesen und sich an Sprache und Humor erfreuen.
Fantasy hat damit Probleme. Das ist natürlich nicht per se schlecht. Ich liebe die Hexer-Bücher, aber eine unterliegende Thematik wird sich da nicht finden, außer vielleicht der Erkenntnis, dass Menschen mitunter böse und blöde sein können. Und Glen Cooks Black Company wird sicherlich keine Philosophiepreise gewinnen oder Literaturstudenten in den kommenden Jahrhunderten beschäftigen (es sei denn es kommt zu einer sehr wählerischen Apokalypse, die nur meine Bücherregale überleben).
Eine Intention, Botschaft oder zentrale Thematik kann aber sehr dazu beitragen, die Handlung zu verdichten oder Symbolik mit mehr als nur Schauwerten zu versehen. Guy Gavriel Kays Mosaic-Duologie ist eines der perfekten Beispiele dafür - aber im Grunde könnten hier all seine Bücher als Anschauungsmaterial dienen.

Beim ersten Lesen weiß Kay, den Leser mit seiner Geschichte um Kunst, Politik und Verlust zu fesseln. Wie sehr, habe ich ja bereits anzudeuten versucht. Erst beim zweiten Lesen wird allerdings klar, wie stark die zentrale Prämisse - Kunst als Erbe, bzw. die Frage nach den Möglichkeiten des Menschen, nachfolgenden Generationen etwas von sich mitzugeben - selbst mit den Nebensträngen der Handlung verwoben sind. Symbole für zyklische Wiedergeburt, Ewigkeit, aber auch Verlust und Trauer tauchen in verschiedenen Formen überall in den Büchern auf und sie verknüpfen die Charaktere, Handlungsorte und Ereignisse stärker als ein Buch ohne übergreifende Thematik es könnte.
Ich würde soweit gehen, zu sagen, dass selbst George R.R. Martins Das Lied von Eis und Feuer zusätzlich zu seiner komplexen, verstrickten Handlung noch eine andere Ebene besitzt. Loyalität und die Frage nach ihrem Wert in einer Welt, die sich langsam aber sicher von den Grundregeln löst, die ihre Gesellschaft über Jahrhunderte etabliert hat, sind wiederkehrende Ideen und nicht selten Antrieb für Nebenhandlungen oder neue Charaktere. In einem so umfangreichen Werk wie dem Lied können solche übergreifenden Themenkomplexe natürlich besonders hilfreich sein, Gemeinsamkeiten hervorzuheben und einen Plot, der sich auf viele Charaktere erstreckt - und mit jedem Band unfokussierter erscheinen mag - entlang dieser zu entwickeln. Wer Martin vorwirft (und damit vielleicht nicht unrecht hätte), dass er seinen Haupthandlung aus den Augen verliert, der hat noch nicht den roten Faden bemerkt, der sich durch seine Bücher zieht.

Vielleicht sind Intention und Botschaft die falschen Wörter. Ich habe zuvor Thematik erwähnt und halte es für recht passend. Wie Stephen King sagt: Die richtig guten Bücher funktionieren auf mehr als nur einer Ebene.
Aber nicht nur für Leser ist ein zentrales Thema interessant, auch für Autoren kann es hilfreich sein. Es kann die Rettungsleine sein, anhand der man sich durch zunehmend verschachteltere Plots hangelt. Indem man sich an einer zentralen Prämisse orientiert, kann man sichergehen, sich nicht im Wust von Nebenhandlungen zu verlieren. Bei der Überarbeitung ermöglicht sie es, unwichtige Handlungsstränge ausfindig zu machen und zu elimieren um bei all der Komplexität einen Text zu schaffen, der so schlank ist, wie er sein kann, muss und darf.
Aber: Intention, Thema und Botschaft sollten niemals treibende Kraft einer Geschichte sein. Wenn ich beim Lesen merke, dass der Autor mir seine Geisteshaltung aufdrücken will, oder bestimmte Charaktere aufgrund ihrer Gesinnung (sexuell, geistig, religiös) benachteilig oder übervorteilt um ein Statement zu machen, dass in der Geschichte noch dazu fehl am Platz ist, stößt mir das eher sauer auf, als dass es mich tiefer zieht.
Das Thema sollte stets etwas sein, das erst bei genauerem Hinsehen erkenntlich wird, das die einzelnen Elemente einer Handlung durchdringt und beeinflusst, ohne sie am Halsband in eine bestimme Richtung zu führen. Es sollte das besondere Etwas sein, das man für sich selbst erschließen, über das man mit Freunden diskutieren (und unterschiedlicher Meinung sein), das einer guten Geschichte den gewissen Funken verleiht, der sie zu mehr macht als einer gelungenen Kombination von Handlung, Charakteren und Sprache.

Sonntag, 18. August 2013

Spielplatz I: Dishonored

Dass ich mal über den Tellerrand schauen wollte, hab ich ja schon mal angekündigt, heute ist es dann mal so weit. Ich hab kein gutes Buch gelesen, hab keine Zeit, mir große Gedanken ums Schreiben zu machen, aber es gibt einen Artikel, den ich schon seit längerer Zeit schreiben will.
Heute möchte ich euch ein Computerspiel nahe legen, dass vielleicht einer der besten Vertreter des Mediums ist, wenn es um die Darstellung einer Welt und das Erzählen von Geschichten geht: das 2012 erschienene Dishonored.
Eines vorweg: ich empfehle Dishonored nicht wegen seiner Handlung. Die ist leider nur allzu vorhersehbar und nur wenige Charaktere erlangen wirkliche Tiefe. Klingt  nach einem Widerspruch? Abwarten.

Copyright Bethesda Softworks

Dishonored ist ein Stealth-Spiel im Stile der grandiosen Thief-Reihe (die früher oder später auch mal hier landen wird). Das bedeutet, dass der Spieler in der Regel versuchen sollte, heimlich vorzugehen und Gegner zu umgehen. Im Gegensatz zu Thief kann Corvo, der stumme Protagonist des Spiels, es aber auch mit einer kleinen Anzahl von Feinden im offenen Kampf aufnehmen, wobei ihm nicht zuletzt eine Reihe von übernatürlichen Fähigkeiten helfen. Neben der Fähigkeit, über kurze Strecken zu teleportieren, kann Corvo Rattenschwärme herbeirufen, die Zeit verlangsamen oder sogar anhalten und besonders hoch springen. Diese Fähigkeiten müssen mit überall in den ausladenden Missionen versteckten Runen freigeschaltet werden. 
Zwar ist das Arsenal an offensiven Fähigkeiten größer als die auf Heimlichkeit ausgelegten (neben dem Blink-Teleport ist hier eigentlich nur die Sprungfähigkeit und der Zeitstopp nützlich), aber es ist möglich, das gesamte Spiel durchzuspielen, ohne auch nur einmal zu töten, sondern auch ohne entdeckt zu werden.
Das Spiel zeichnet sich darüber hinaus dadurch aus, dass es dem Spieler in seinen großen, offenen Levels viel Freiraum gibt seine Vorgehensweise selbst zu wählen. Greifen wir die Wachen direkt an um in das Gebäude zu kommen? Oder schleichen wir uns vorbei? Oder teleportieren wir von Dach zu Dach bis zum offenen Fenster im ersten Stock? Oder springen wir zu einem Balkon hoch? Oder nutzen wir die Possession-Fähigkeit um im Körper eines Fisches durch die Kanalisation in die Waschbereiche zu schwimmen? Oder doch ganz anders?
Diese Entscheidungsfreiheit, zusammen mit teils versteckten Nebenaufgaben macht auch mehrmaliges Durchspielen hochinteressant.


Copyright Bethesda Softworks

Spielerisch ist Dishonored also wirklich intelligent und fordernd und die Vielfalt an Vorgehensweisen wird den Spieler motivieren. Doch die wahre Faszination, die Dishonored zu einem modernen Klassiker und einem atmosphärischen Meisterwerk macht, ist die Präsentation der Welt.
Denn Dishonored ist noch weiter von "klassischer" Fantasy entfernt als die Thief-Reihe, die es inspirierte. Das Setting ist absolut einzigartig. 
Dishonored präsentiert uns eine Welt, die an der Schwelle zum Industriezeitalter steht. Mit dem Fokus auf die Hauptstadt des Kaiserreiches der Inseln - die Stadt Dunwall - erlebt der Spieler eine Welt, in der neuartige Technologie erst kürzlich Arbeitsweisen und Gesellschaft verändert hat. Quelle dieser Entwicklung ist Walöl, das den mächtigen Tieren - die mit den Walen unserer Welt nur wenig zu tun haben - entnommen wird um alle Arten von Maschinerien zu betreiben. Fabriken, Schiffe, Waffen, Scheinwerfer, Lautsprecher, tödliche Lichtwälle - all dies wird von Walöl betrieben und die Walfängerei ist einer der größten Zweige der Industrie.
Doch bereits kurz nach Spielbeginn ist vom erblühenden Wohlstand nur noch wenig übrig. Die Kaiserin ist tot, der Lordregent herrscht mit eiserner Hand und eine pestähnliche Epidemie rafft Dunwalls Bürger zu hunderten dahin. Jetzt wird auch deutlich, welche gesellschaftliche Rolle die Technologie spielt: während die ärmeren Bürger in den Straßen sterben, verstecken die Reichen sich in ihren Villen hinter Schutzwällen aus Elektrizität und der unerbittlichen Stadtwache und geben sich ihren Gelüsten auf dekadenten Banketten hin. In diese Situation wird der Spieler hineingeworfen.
Und bald stößt er auf größere Mysterien, die das Fundament des modernen Dunwalls bilden. Der Outsider, eine enigmatische Gestalt, die sich als junger Mann mit tiefschwarzen Augen präsentiert, verleiht dem Spieler aus Neugier seine Fähigkeiten. Von vielen Menschen wird er im heimlichen verehrt und sie schnitzen ihm zu Ehren Anhänger aus Walknochen. Wo die mysteriösen Runen auftauchen, die mit seinem Zeichen versehen sind, ist Wahnsinn nie fern und die dunkelsten Seiten der Menschen kommen oft da zum Vorschein, wo sein Einfluss nicht weit ist. Und dann sind da auch noch die Hinweise, dass Dunwall nicht die erste Stadt an diesem Ort ist und dass auch in denen, die zuvor kamen, die Menschen den Outsider verehrten und mit ihm, die Herrscher der Meere, die gewaltigen, eigenartigen Wale. Und lasst uns nicht erst von Granny Rags reden, der alten Frau, die weitaus mehr ist, als eine Gruselgeschichte für Kinder und Erwachsene zugleich.


 Copyright Bethesda Softworks

Das alles bildet den Hintergrund für die Erlebnisse des Spielers und verleiht der Welt eine Tiefe, die gerade in den Blockbustertiteln des Mediums selten ist. Aber damit endet die Faszination Dishonoreds längst nicht. Denn das Spiel erzählt uns nicht einfach von seinen Geheimnissen. Der Spieler muss sie selbst finden.
Überall im Spiel sind Bücher verstreut, Nachrichten und Briefe. Hier schreibt ein Dockarbeiter über die widrigen Umstände seiner Arbeit, dort berichtet ein Wachmann von dem seltsamen Gefühl, das er hat, wenn er ein bestimmtes Gebäude passiert, ein Mitglied der Kirchenmiliz hält die verstörenden Bilder seiner Träume fest und in verlassenen Häusern steht in verschmierter Schrift geschrieben "Der Outsider wandelt unter uns!"
Es ist möglich, das Spiel durchzuspielen, ohne all diese kleinen Details zu entdecken, aber man muss sich anstrengen und beraubt sich selbst viel von der großartigen Atmosphäre. Denn Dunwall lebt, Dunwall atmet und zwar jahrtausendealte Mysterien, verstrickte Netze aus Intrige und Aberglaube, aus Gewalt und Verzweiflung.
Viele der Einzelheiten ergeben erst dann ein größeres Ganzes, wenn der Spieler seine Phantasie spielen lässt und Details eigenständig zusammensetzt. Dishonored ist voller Andeutungen und Halbwahrheiten, voller Verzerrung der Tatsachen durch Zeit und die persönliche Agenda von Adel, Kirche und Menschen. Und die besten Geschichten erzählt nicht die Haupthandlung, sondern das zufällig gefundenen Buch in der Ecke eines Raumes, in dem neben zwei Leichen ein Altar an den Outsider steht. Oder der Tagebucheintrag eines Dienstmädchens. Oder die Gedanken eines Obdachenlosen, die der Spieler mittels des mysteriösen Herzens lesen kann, das der Outsider ihm gibt. Und überhaupt, das Herz ...

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Dishonored nutzt die Methoden, die nur interaktiven Medien zur Verfügung stehen, perfekt. Es ist der Initiative des Spielers überlassen, wie weit er in die Welt eintauchen will und was er aus den Mosaiksteinen macht, die er findet. Ähnlich wie in den drei Thief-Titeln verleiht das der Welt Substanz und macht sie zu mehr als nur einer Kulisse. Und die wirklich erschreckenden und ergreifenden Einzelheiten erschließen sich nur, wenn man selber Verbindungen herstellt. Zusammen mit Deus Ex Human Revolution ist Dishonored damit ein Paradebeispiel um den Vorwurf zu entkräften, das digitale Medium eigne sich nicht um eine Geschichte zu erzählen. Das tut es sehr wohl. Im Gegensatz zu Büchern und filmen kann es nämlich eine Vielzahl von Geschichten zugleich erzählen und gleichzeitig dem Spieler in großem Maße überlassen, wie diese Geschichten lauten, wie sie ausgehen, was ihre Nuancen sind.

Copyright Bethesda Softworks
Unterstützt wird all dies von einem einzigartigen Grafikstil, der comicartige Charaktere mit der Optik eines Ölgemäldes paart und in eine Welt wirft, in der der Stil des späten 19. Jahrhunderts auf Science-Fiction und Fantasy zugleich trifft, alles gewürzt mit einer kräftigen Prise Lovecraft.
Dabei sei eine Warnung ausgesprochen: Dishonored ist blutig, daran ändert die im Vergleich abstrakte Grafik wenig. In Kinderhänden hat es nichts zu suchen und mit seinen Themen und Ansprüchen richtet es sich an ein erwachsenes Publikum. Das legt aber auch der schwer zu übersehende rote USK-Aufkleber auf dem Cover nahe.
Aber wer ein herausforderndes Spielerlebnis sucht, das Kreativität bei Problemlösungen und Bereitschaft, sich auf eine faszinierende Welt einzulassen fordert, kann mit diesem Titel nichts falsch machen.

Copyright Bethesda Softworks

Dishonored ist sowohl für die Xbox360 als auch die PS3 erhältlich, ich empfehle aber die PC-Version, die besser aussieht und sich um komfortabler steuern lässt. Inzwischen sind auch zwei kostenpflichtige Zusatzepisoden zum Download erschienen, The Knife of Dunwall und The Brigmore Witches. Beide erzählen eine zusammenhängende Geschichte um einen Nebencharakter aus dem Hauptspiel.

Freitag, 2. August 2013

Buchvorstellung III - Hexer Saga

Es wird mal wieder Zeit für eine Buchvorstellung. Diesmal soll es die Buchreihe von Andrzej Sapkowski sein, die ich mir einmal genauer ansehen möchte. (Also ist es genau genommen eine Büchervorstellung, aber wer will denn pingeln?)

Der erste Band - Der letzte Wunsch - der Reihe erschien erstmals 1993 in polnischer Originalsprache und ist eine Reihe von sechs Kurzgeschichten, die von der Rahmenerzählung Die Stimme der Vernunft zusammengehalten werden. Protagonist ist de Hexer Geralt von Riva, der seit seiner Kindheit ausgebildet und mutiert wurde, die Menschen vor Monstern zu beschützen. Er kann größere Schmerzen ertragen, ist stärker und kann im Dunkeln sehen.
Für wen das jetzt nach Gary Stu klingt, dem stimme ich hier teilweise zu. Gerade in den ersten beiden Bänden, die jeweils Kurzgeschichtensammlungen sind, kommt Geralt oftmals als übermächtiger Krieger daher, der noch dazu jede Frau ins Bett kriegt. Es hilft allerdings, dass die Bücher ihren eigenen Humor haben und die an sich düstere Fantasywelt mitunter durch die Linse der Ironie betrachten. Das kann von kurzen Beobachtungen der Hauptcharaktere bis hin zu einigen Märchenparodien führen, die mitunter wirklich zum Schlapplachen sind. Außerdem wird der Charakter Geralts im Laufe der Bücher immer komplexer. Wenn die Reihe dann in Band drei - Das Erbe der Elfen - die Kurzgeschichtenwurzel hinter sich lässt und in eine übergeordnete Haupthandlung übergeht, ist vom übermächtigen Geralt wenig geblieben. Stattdessen erleben wir einen runden, innerlich zerrissenen Charakter, der sich in eine Wahrsagung verstrickt findet und sich verpflichtet, auf ein junges Mädchen achtzugeben.


Copyright: dtv

Überhaupt bringt Sapkowski es immer wieder fertig, Fantasyklischees einen ganz eigenen Twist zu verleihen. Das liegt nicht zuletzt an der osteuropäisch angehauchten Welt, in der die Bücher spielen.
Es ist eine Welt, in der es Elfen gibt und Zwerge, Trolle, Untote, Drachen, Golems, unsterbliche Magier, Geister und Gespenster - mit Tolkien hat es dennoch wenig zu tun.
Elfen und Zwerge leben in Ghettos, weil die Menschen sich immer weiter ausbreiten, Drachen sind beinahe verschwunden, Magier meistens weiblich und sehr darauf bedacht, die Geschicke der Königreiche aus den Schatten heraus zu lenken. Und die Monster? Nun, Geralts Vorgänger haben ganze Arbeit geleistet, denn die Kreaturen, die vor Jahrzehnten noch Dörfler und Reisende in Angst und Schrecken versetzt haben, sind rar gesät. Die Ausbreitung des Menschen beraubt sie ihrer Lebensräume und so ist es kaum noch verwunderlich, wenn Geralts vermeintliche Beute mitunter zivilisierter daherkommt als Bauern, Ritter und Könige.
Im Großen und Ganzen ist Sapkowskis Welt eine düstere, von Krieg und Armut gezeichnet und den Launen der Mächtigen ausgesetzt. Hinter dem Schrecken der Zivilisation liegen Sagengestalten und Legenden versteckt, die von Zeit und Weitergabe verzerrrt wurden und alte Prophezeiungen sind eine Gefahr für alle, die mit ihnen in Verbindung kommen. Irgendwie schafft Sapkowski es, die Grenzen zwischen High Fantasy - Magie und Fabelwesen, wo man nur hinschaut - und Low Fantasy - dreckige, harte, menschliche Geschichten - zu verwischen und so etwas ganz eigenes zu schaffen.
Ebenso gelingt ihm die Balance zwischen Ernst und Humor, die in so einem düsteren Setting dringend nötig ist, was nicht zuletzt an großartigen Nebencharakteren liegt, wie dem Barden Rittersporn.


Copyright: CD Project Red
 
Die einzelnen Geschichten sind meist einfach gehalten, aber die übergreifende Handlung der gesamten Reihe ist komplex und beleuchtet die Politik mehrerer, in sich immer wieder wiederholende Kriege verwickelte Königreiche, Leben und Soziales in einer harten und unnachgiebigen Welt und die Konsequenzen von Handlungen und die Auswirkungen menschlichen Verhaltens. So ist Geralts Verhältnis zu seiner Ziehtochter zwar liebevoll, aber auch von Zweifeln geprägt und Yennefer - die Frau, die er liebt - selten durchschaubar. Mit konventionellen Moralvorstellungen sind sowohl der Autor als auch die Leser schnell durch und bei mehr als einem Charakter ist der Aufbau von Sympathie geradezu echte Arbeit.
Umso großartiger ist es aber, in eine Welt abzutauchen, deren tiefe Wurzeln bis in die Urzeit der menschlichen Psyche und Weltwahrnehmung und in unsere eigenen Legenden zurückreichen und die Handlung, die Charaktere und die nicht gerade geringe Anzahl an Anspielungen und Parodien zu genießen, die so absolut einzigartig im Genre sind.

Was mich allerdings bei jedem Lesen besonders begeistert, ist Sapkowskis Fähigkeit, viele Szenen praktisch nur über Dialoge abzuwickeln. Obwohl er in diesen Situationen praktisch auf Beschreibungen der Umgebung verzichtet, weiß man zu jeder Zeit, wo sich die Charaktere befinden und was sie tun.


Copyright: CD Project Red

Ich kann die Reihe nur jedem empfehlen, zumal die osteuropäischen Einflüsse Sapkowskis Welt zu etwas absolut einzigartigem machen und die Stimmung Ihresgleichen sucht.
Inzwischen existieren zu der Serie auch zwei Computerspiele, ihrerseits würdige Erweiterungen von Setting und Charakteren, die das übergreifende Hexer-Thema - in einer komplizierten Welt kann es keine einfachen Entscheidungen geben - erfolgreich in das neue Medium übertragen. Sowohl der erste Teil The Witcher, als auch der Nachfolger The Witcher 2: Assassins of Kings sind inzwischen für einen Appel und ein Ei zu haben, Assassins of Kings verlangt aber nach einem außerordentlich leistungsfähigen PC oder einer Konsole, damit man es wirklich genießen kann.
Insgesamt beläuft sich die Buchreihe auf sieben Bände: Der letzte Wunsch, Das Schwert der Vorsehung, Das Erbe der Elfen, Die Zeit der Verachtung, Feuertaufe, Der Schwalbenturm und Die Dame vom See.

Freitag, 19. Juli 2013

Über das Schmieden von Welten IV/2 - Konzepte & Ideen

Sehr geehrte Damen und Herren,
weiter geht es mit Teil 2 der aktuellen Serie. Nachdem es letzte Woche um die großen Ideen und Stolpersteine ging, möchte ich mich heute der Frage nach dem Wissenshorizont einzelner Charaktere widmen.
Eine kleine Anmerkung schicke ich voraus: (auch) in dieser Hinsicht bin ich extrem pingelig, noch pingeliger vielleicht, als bei anderen Angelegenheiten.

Dass ein Charakter nur Wissen über Ereignisse, Dinge oder Personen haben kann, mit denen er (im weitesten Sinne in Kontakt getreten ist, gehört ja eigentlich zu Fundament der Konsistenz eines jeden Textes. Timmy wird nur von den Alten Königen der westlichen Marken wissen, wenn ihm irgendwer einmal davon erzählt hat. Vielleicht hat seine Mutter ihm Märchen erzählt, oder ein Geschichtenerzähler ist eins durch Timmys Dorf gekommen. Oder aber, Timmy wohnt gar nicht in einem Dorf, sondern in einem Kloster und zwischen den unzähligen religiösen Texten finden sich auch Geschichtsbücher oder Legenden, die irgendein Mönch einst in ominösen Bänden gesammelt hat.
Cindy der Barbar hingegen ist ein Meister des Fallenstellens und kann vom Hasen bis zum Elephanten alles erlegen und häuten, das ihm in die Finger kommt, aber in der Stadt ist er aufgeschmissen und wenn die Schwarzen Inquisitoren ihn nach den Glaubensbekenntnissen der Weberleute fragen, kann er sich schon einmal darauf vorbereiten, auf dem Scheiterhaufen zu kokeln.
Kurz:
eben so, wie Ideen und Konzepte nur logisch in eine Welt eingefügt werden können, wenn sie eine Vorgeschichte haben, muss Charakterwissen stets an die einzelne Person und ihren Werdegang angepasst sein. Wer das gewissenhaft betreibt, dem steht frei, damit Spielchen zu treiben:
angenommen, Cindy der Barbar weiß doch von den Glaubensbekenntnissen, obgleich er seinen Gefährten gegenüber behauptet, nie in Weberland gewesen zu sein, öffnet das die Tür für Konflikte und Misstrauen, gar für neue Handlungsstränge. Und was, wenn Timmy, nach all den Jahren in der Klosterbibliothek, in der er die verpöhnten Legenden gelesen hat, in die Kaiserstadt kommt und als einziger in einem alten Steinrelief die Bestätigung einer Sage erkennt?

Das sind aber wiederum große Ideen und Konzepte, verglichen mit dem, worum es jetzt gehen soll. Seid gewarnt, jetzt wird es kleinteilig!
Vor Jahren schrieb ich einmal an einer Geschichte, die größtenteils aus der Perspektive eines Charakters erzählt wurde. Sein Name war zwar nicht Timmy, aber er stammte aus einem Kloster und fand eines Tages den Weg in eine große Stadt. Während der Unterschied zu seinem früheren Leben ihn sich unwohl fühlen ließ, war er dankbar, einen Freund bei sich zu haben, der ihm - gemeinsam mit den Erinnerungen an das Kloster - ein Anker in dieser neuen Umgebung war.
Moment mal, dachte ich. Das Kloster aus dem er stammt, liegt in einer bergigen Region, sein ganzes Leben hat er dort verbracht und obgleich er von Schiffen gelesen hatte - würde er wirklich in dieser Metapher denken?
Wäre es nicht angemessener für ihn, von seinem Freund als ein Turm zu denken, ein Orientierungspunkt in der auf- und absteigenden Landhschaft der Berge?

Im Gegensatz zu den eingangs (und letzte Woche) genannten Ideen handelt es sich hierbei nicht länger um bewusstes Wissen oder denken der Charaktere, sondern das Unterbewusstsein, die Art und Weise, wie sie die Welt wahrnehmen, ohne wahrzunehmen, dass sie derart wahrnehmen ...
Ich versuche seitdem, verstärkt auf so etwas zu achten, weil ich weiß, dass es mir auffiele, wenn ich es in einem anderen Buch lesen würde.
Also:
wie auch die Welt und ihre Errungenschaften und das bewusste Wissen von Charakteren eine Spiegelung der weltlichen und persönlichen Vergangenheit sein sollte, muss auch das Unterbewusste, das nebensächliche auf bereits Geschehenes zurückgreifen können.
Ein Seemann wird nicht denken, dies oder jenes sei so wertvoll wie Wasser in der Wüste, wenn er nie in einer Wüste war. Vielleicht denkt er, es sei so wertvoll wie Süßwasser inmitten des Ozeans. Nomadenvolk, die nur das flache Steppenland kennen, werden in einem heranrückenden Gewitter nicht als erstes Berge sehen, dafür vielleicht eine Stampede unruhiger Wildpferde. 

Samstag, 13. Juli 2013

In Eigener Sache 3: Judgement Day

Hallo alle zusammen,

eigentlich sollte hier ja schon gestern der zweite Teil der "Ideen & Konzepte"-Kurzserie online sein. Ich hatte mir das auch fest vorgenommen, aber leider sieht es momentan danach aus, dass es mir einfach an Zeit fehlt, jede Woche einen Artikel online zu stellen. Ich habe in anderthalb Monaten eine große Prüfung vor mir, deshalb hier eine Ankündigung:

bis zum 29.08, vermutlich sogar länger, werde ich nur noch alle zwei Wochen updaten.

Ich hoffe, ihr habt Verständnis.


Samstag, 6. Juli 2013

Über das Schmieden von Welten IV/1 - Konzepte & Ideen

Erst einmal möchte ich mich entschuldigen, dass es letzte Woche keinen Beitrag gab. Ich hatte zu viel um die Ohren und mit einem Mal war schon Sonntag. Wäre mir dann allerdings diese Woche beinahe wieder passiert.
Heute gibts dafür den Anfang einer (erstmal) zweiteiligen Serie zum Thema Konzepte & Ideen. Was es damit auf sich hat? Das erfahrt ihr gleich.



Diese Woche sind Ideen das Thema.
Nein, ich diskutiere keine Handlungsideen, dafür hab ich selbst zu wenige (und bin zu geizig). Stattdessen will ich Ideen und Konzepte diskutieren, wie sie in einer Fantasywelt existieren können und welche Voraussetzungen sie mit sich bringen. In diesem Zusammenhang will ich mich auch mit Begriffen beschäftigen, deren Existenz in einer Fantasywelt, die sich von unserer abhebt, keinen Sinn machen - unabhängig von der kreativen Energie mit der der Autor versucht, sie zu rechtfertigen.
Diese Woche möchte ich mich mit den großen Ideen auseinandersetzen, die eine Welt lebendig machen oder sie zu Fall bringen können. Nächste Woche soll es dann mit einem kleineren Feld weitergehen, der Frage, was ein Charakter kennen kann und wie es sein Denken beeinflussen wird.

Fangen wir mit den großen Dingen an, also Konzepten, die aus dem Grundgerüst einer Fantasywelt herausstechen, weil sie bestimmte Voraussetzungen benötigen, die technisch, historisch oder logisch (noch) nicht vorhanden sind.
Einer der Klassiker ist mir erst kürzlich in einem Buch begegnet. Die Protagonistin (nennen wir sie Timma) wächst in einem kleinen Dorf auf - gewalttätiger Vater inklusive. An sich werden ihre Lebensumstände als typisch mittelalterlich beschrieben, Krankheiten, Armut und körperliche Arbeit werden ebenso erwähnt, wie der Umstand, dass der Vater monatelang von zuhause fort ist, nachdem er von der Armee zwangsrekrutiert wurde. So weit so gut.
Dann kommt dieser eine Satz und ich bin bereits nach knapp zwanzig Seiten versucht, mit dem Lesen aufzuhören:
In einem Nebensatz wird erwähnt, dass die Lehrerin der örtlichen Schule Timma zwar für schlau, aber auch für eine Träumerin hält.
Schule? Lehrerin? LehrerIN?
Sicher, Schulen gab es bereits bei den Sumerern und natürlich bei den alten Griechen. Die Existenz einer Schule in der Welt, die der Autor geschaffen hat, wäre also nicht unvorstellbar. Aber sie wäre sicherlich nur für diejenigen zugänglich, die genügend großes Einkommen hätten, für Adelige und – wenn die Standesbarrieren bereits erodiert sein sollten – für Kinder reicher Kaufleute. Dann fände man diese Schule aber sicher nicht in einem kleinen Dorf, in dem die Kinder arbeiten müssen, damit die Familie überleben kann. Um das zu untermauern braucht man sich nur einmal in der heutigen Welt umsehen: Kinder besuchen am seltensten dort Schulen, wo Armut herrscht und Familien auf jeden Pfennig (oder Cent, für die Jüngeren) angewiesen sind, den sie zusammenklauben können. Dort gibt es weder Zeit, noch Bereitschaft, Kinder freizustellen, damit sie Dinge lernen können, die sie in ihrem elenden Lebensumfeld gar nicht gebrauchen können.

Mönche in der Klosterschule

Schulbildung war bis zur Industrialisierung – und oftmals noch viel später – ein Vorrecht der Reichen und Mächtigen oder bestimmten gesellschaftlichen Klassen vorbehalten wie etwa Mönchen. Selbst Adelige lernten nicht selten weder Lesen noch Schreiben. 
Abgesehen davon, dass keine dieser Klassen in dörfischer Armut lebt, gab es aber noch eine Gemeinsamkeit: Es handelte sich ausschließlich um Männer. Noch unwahrscheinlicher also als Schulbildung für Dorfkinder ist Schulbildung für Dorfmädchen, gerade in einer Welt, in der Geschlechtergleichstellung nicht existent ist. Was dann auch die letzte Frage aufwirft: wo bitte kommt die Lehrerin her? Selbst in Adelsfamilien war es äußerst unüblich, Frauen irgendeine ausufernde Ausbildung angedeihen zu lassen – viele konnten weder Lesen und Schreiben. Diejenigen, die es konnten, fanden sicherlich nicht ihren Weg an Dorfschulen.
Das Beispiel zeigt, wie ein dahingeworfener Satz die Suspension of Disbelief für eine ganze Welt aushebeln kann. 
Damit die Umstände eintreten, die der Autor beschreibt, müsste seine Welt über eine einheitliche Herrschaft verfügen (tut sie nur bedingt), die Standesgesellschaft abgeschafft haben (hat sie nicht), Wohlstand für eine breite Masse der Bevölkerung bieten (tut sie nicht) und die sozialen und ethischen Grundüberlegungen für die Schaffung eines wie auch immer gearteten Bildungssystems getan haben (hat sie nicht). Oh – und die Gleichstellung der Geschlechter akzeptieren (dreimal dürft ihr raten). Dann kann auch Timma in die Schule gehen und von einer Welt träumen, in der Klischees eine gute Sache sind.
Kann sie aber nicht.

Wie Timmas Leben wohl eher aussah.

Andere Beispiele betreffen eher materielle Erfindungen. Lösen wir uns vom Buch:
Sagen wir, die Frau Lehrerin trägt eine Brille (tut sie nicht, jedenfalls wird es nicht erwähnt). Das bedeutet, die Welt, in der wir uns befinden, hat Glasbearbeitung gemeistert. So weit, so gut, Glasbearbeitung und -herstellung gibt’s schon seit knapp 3500 Jahren. Da war es aber noch zu milchig um groß was durch zu sehen. Perfektioniert wurde die Technik erst viel später, weshalb zur Herstellung von Sehhilfen oftmals konvex geschliffene Edelsteine verwendet wurden (sprich: teuer). Die erste Brille ist wohl gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstanden, war aber immer noch teuer und kaum verbreitet. Die erste Brille zur Korrektur von Sehfehlern wurde 1909 patentiert. In Massenproduktion – so, dass eine Dorflehrerin sich eine Brille leisten konnte – gingen sie wohl erst 1912. Nein, das sind keine Tippfehler.

Ein absoluter Klassiker aus der Reihe „Hab's geschrieben, aber nicht durchdacht“, betrifft Kommunikation über lange Distanzen.
Feldherr Timmy der Große, Retter des Weißen Kaiserreichs, ist an der östlichen Küste um die dort landenden Seeräuber zurückzuschlagen. Von einem tödlich verwundeten Feind erfährt er, dass die Invasion im Osten nur eine Finte ist. Der wahre Angriff soll zweitausend Meilen weiter nördlich erfolgen, wo Timmys große Liebe Schakkeline die Hauptstadt des Reiches verwaltet.
Schnitt zu Schakkeline, nächster Tag.
Sie hat soeben von Timmys Entdeckung erfahren und die kaiserliche Garde entsandt, damit sie den Seeräubern einen Hinterhalt legt. Den Göttern sei Dank, hat sie Timmys Nachricht rechtzeitig erhalten.
Äh … und wie bitte ist das vonstatten gegangen? Wenn es in der Welt keine magische Kommunikationsmethode gibt (oder die zuvor nicht erwähnt wurde), gibt es keine Erklärung, wie all die Meilen innerhalb eines Tages überbrückt werden konnten. Brieftauben? Die können zwar tausend Kilometer am Tag schaffen, realistischer sind aber maximal fünfhundert Kilometer, geeignetes Wetter vorausgesetzt. Kuriere? Brauchen länger, selbst mit ausgefeilten Postsystemen und das setzt voraus, dass die Seeräuber nicht irgendwo im Hinterhalt liegen um Reiter abzufangen und Vögel mit Pfeilen zu spicken.
Gut, sagen wir, es gibt eine magische Methode der Kommunikation. Warum versuchen die Seeräuber dann überhaupt ihre Ablenkung, wenn sie wissen, dass Nachricht von ihren Angriffen oder ihren Plänen innerhalb kürzester Zeit einen ganzen Kontinent überqueren können. Überhaupt: wieso hat eine so schnelle Kommunikation die Welt nicht bereits so weit verändert, dass der oberste Feldherr nicht mehr persönlich an der Küste auftauchen muss, sondern einem begabten Untergebenen per MagiCom Anweisungen erteilen kann?
Ist MagiComm selten? Gut, das könnte ich als Erklärung akzeptieren.

Twitter.

Wie bereits eingangs erwähnt wurde, setzen bestimmte Errungenschaften bestimmte Vorgänge und Entwicklungen voraus, die ihrerseits Einfluss auf die Welt um sie herum haben.
Schulen für Dorfkinder? Dann bitte auch ein Bildungssystems und Abkehr von der Standesgesellschaft. Brillen? Jemand sollte Glas bearbeiten können und genug Menschen lesen können. Langstreckenkommunikation? Entweder mit Magie oder mit massiven Nachteilen. Schießpulver? Wenn es lang genug bekannt ist, warum reiten dann immer noch Ritter in Plattenrüstung in die Schlacht? Frauenrechte? Dann sollte die herrschende Kirche besser keine andersartigen Vorstellungen haben.

Nächste Woche geht es dann mit einem stärker fokussierten Blick auf Charaktere weiter.